Heroes in Krefeld

Andrea Blomen: Die Haltung zum Leben

Die diplomierte Konferenzdolmetscherin Andrea Blomen war über drei Jahrzehnte für den Krefelder Verein für Haus- und Krankenpflege tätig, davon 29 Jahre als Vorsitzende.

„Essen auf Rädern“ ist längst ein bundesweit geläufiger Begriff für den Service, warme Mahlzeiten an ältere oder bedürftige Mitbürger auszuliefern. Dabei handelt es sich ursprünglich um einen Krefelder Import: Es war der 1958 gegründete Krefelder Verein für Haus- und Krankenpflege, der diese Leistung 1961 als erste Hilfsorganisation in Deutschland anbot und bis heute kontinuierlich weiterentwickelte. Andrea Blomen repräsentierte den Verein mit der Mitgliedsnummer 5 im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband über 30 Jahre lang und setzte sich unermüdlich für ihn ein, in guten und schlechten Zeiten – und neben einer überaus anspruchsvollen hauptberuflichen Tätigkeit. Mit ihrem ganzen Auftreten und Ihrer Persönlichkeit verkörpert sie dabei, was Mitmenschlichkeit wirklich bedeutet: mit der eigenen Stärke eine Stütze für Schwächere zu sein.

„Alles begann 1987, als ich mit meinem Ehemann Manuel die Gelegenheit hatte, für die GKG Mösche-Männekes das Prinzenpaar zu stellen“, beginnt Blomen ihre Geschichte. „Ehrensenator war der ehemalige Oberbürgermeister Heribert Ridders, der die Benefizgala ,Wohltun und Freude spenden‘ ins Leben gerufen hatte. Blumensträuße bekommt man als Prinzessin genug, also bat ich um Geldspenden, die dem Verein für Haus- und Krankenpflege zugutekommen sollten.“ Jeder in Krefeld kannte den Verein und wusste, was er leistete: Schon damals lieferte er täglich hunderte von warmen Mahlzeiten aus, betrieb darüber hinaus einen ambulanten Pflegedienst – und das noch weitestgehend ohne professionelle Infrastruktur oder gar einen Geschäftsführer. „Als die Session zu Ende war, fragte man mich, ob ich als Fundraiser für den Verein tätig sein wollte. Ich sagte zu, sammelte weiter Spenden und vertrat den Verein bei öffentlichen Anlässen. Doch meine eigentliche Tätigkeit begann 1993, als ich den Vorsitz von meiner Vorgängerin Gisela Erlenbach übernahm.“ Das Amt der Vorsitzenden bekleidete Andrea Blomen 29 Jahre lang: Erst 2022 gab sie den Staffelstab an ihren Vorstandskollegen Thilo Zickler ab. In ihrer Amtszeit trieb sie das Wachstum und die Professionalisierung des Vereins weiter voran: Sie stellte Geschäftsführer ein, erlebte, wie das Spektrum um den Service eines Hausnotrufsystems erweitert und die Essensauslieferung optimiert wurde. „Zu Beginn kochten wir die Mahlzeiten noch selbst, füllten sie dann in Henkelmänner und beluden die Fahrzeuge eigenhändig. Das alles in einer kleinen Küche, in der sich bis zu 600 Mahlzeiten stapelten“, blickt Blomen auf die Anfänge ihres Engagements zurück. „Heute bezieht der Verein sie von einem externen Cook & Chill-Hersteller, der sie auf Keramiktellern an uns ausliefert, und alle Fahrzeuge sind mit entsprechenden Garöfen und Kühlschränken ausgestattet.“ Der letzte Meilenstein der Vereinsgeschichte war schließlich die Übernahme des Schütenhofs in Bockum, der zum attraktiven Standort für die Tagespflege umgebaut wurde.

Alles begann im Karneval: Ehemann Manuel überragte die großgewachsene Frau (rechts) noch.

Andrea Blomen überragt mit ihren 1,80 Meter so manchen Mann – ihr Gatte erweckte beim Abschlussball der Tanzschule Haase-Türk im Krefelder Hof nicht zuletzt deshalb ihr Interesse, weil er größer war als sie –, doch es ist nicht nur ihre Statur, die bleibenden Eindruck hinterlässt. Die Unternehmerin verfügt über eine Haltung und natürliche Präsenz, die man heute nur noch selten findet. Der schicke blaue Hosenanzug, in dem sie uns empfängt, ist nur ein äußerliches Zeichen dieser Haltung. Sie sitzt aufrecht in ihrem Sessel und spricht nahezu druckreif: wohlformuliert und -artikuliert, mit fester Stimme und ohne jedes „ähm“ oder auch nur ein überflüssiges Füllwort. Dabei wirkt sie vollkommen entspannt und in sich ruhend: Der Empfang ist warmherzig und freundlich, die Lachfältchen um ihre Augen zeugen von Humor und Lebensfreude. Auf ihre auffallenden Eigenschaften angesprochen, schmunzelt sie, als fühle sie sich ertappt. „Das habe ich von meinem Vater und Großvater“, gesteht sie. „Ich habe die beiden Männer auch im hohen Alter niemals mit hängenden Schultern gesehen. Beide hielten ihren Rücken immer gerade und das Haupt erhoben. Sie sind meine großen Vorbilder.“

Mit ihrem Ehemann führt sie das Unternehmen ihres Vaters weiter, das in diesem Jahr sein 100-jähriges Jubiläum feiert. Verlag und Versicherungsmaklerei, einst das Kerngeschäft der M. Blomen GmbH, spielen im Leistungsportfolio mittlerweile nur noch eine untergeordnete Rolle. Stattdessen betreut Andrea Blomen als diplomierte Konferenzdolmetscherin Geschäftskunden auf der ganzen Welt, richtet gemeinsam mit Manuel große Veranstaltungen und Konferenzen aus, etwa für die Messe Düsseldorf, oder wandelt als Simultanübersetzerin sicheren Fußes auf dem politischen Parkett. Sie dolmetscht zum Beispiel für die Europäische Kommission in Brüssel oder bei der Verleihung des Karlspreises in Aachen, wo jeder Fehler eine internationale Krise auslösen könnte und hohe Sicherheitsauflagen gelten. Dass es ihr gelang, sich neben diesen anspruchsvollen und zeitaufwändigen Tätigkeiten jahrzehntelang ehrenamtlich für Krefelder Bedürftige einzusetzen, ist mit heute gängigen Vorstellungen einer Work-Life-Balance kaum vereinbar. „Ich tue mich schwer mit dem Begriff“, räumt sie zwinkernd ein. „Mein Mann und ich haben immer viel gearbeitet, uns dazu im Verein und im Karneval engagiert. Halbe Sachen sind nie unser Ding gewesen.“ Dass sie Auslandsaufenthalte für wichtige Vereinsentscheidungen unterbrach, war für sie selbstverständlich. Und fast scheint es ihr ein bisschen unangenehm zu sein, ihr Amt nach all den Jahren doch noch abgegeben zu haben.

Für die Mösche-Männekes stellte Andrea Blomen gemeinsam mit ihrem Ehemann das Prinzenpaar.

Doch die Verbundenheit mit „Essen auf Rädern“ besteht auch nach ihrer aktiven Zeit noch ungebrochen, zumindest ideell. Sein Wappen, ein blaues Kreuz, prangt als Anstecker an ihrem Revers. „Das war ein Geschenk der Pflegedienst-Schwestern, das ich bei gegebenem Anlass mit großem Stolz trage“, erklärt sie, bevor sie sich an eine der lang zurückliegenden Krisen zurückerinnert, die sie mit dem Verein zu überstehen hatte: „Es war Dezember und wir waren in finanzielle Schieflage geraten. Hätten wir das Weihnachtsgeld ausbezahlt, wären wir insolvent gewesen. Ich weihte die Pflegedienstleiterin ein und bat sie um Hilfe. Sie besprach sich mit ihrem Team und teilte mir dann mit, dass alle geschlossen auf das Weihnachtsgeld verzichten würden. Das ist der Geist, der den Verein beseelt.“ Andrea Blomen spricht mit viel Anerkennung und voll des Lobes über die Menschen, die ihr zur Seite standen und deren täglicher Einsatz den Verein erst zu dem machte, was er war und immer noch ist.

Ein Blick zurück in die frühen Neunzigerjahre: Andrea Blomen steht im dunklen Anzug links neben dem Transporter.

Sie spielt ihre eigene Rolle nicht herunter, aber sie macht auch kein großes Aufheben darum. „Ich bin sehr behütet aufgewachsen und mir hat es nie an etwas gefehlt. Ich glaube, wenn man das von sich sagen kann, ist es selbstverständlich, etwas davon an die Gesellschaft zurückzugeben. Es gibt viele Menschen, die unsere Zuwendung brauchen. Und es ist schön, ihnen eine Freunde machen zu können.“ Sie erzählt die Geschichte des demenziell veränderten Arztes, der vor Freude strahlte, wenn er in der Tagespflege vermeintliche Rezepte unterzeichnen durfte. Oder von der alten Dame, die auf dem Weihnachtsmarkt eine Tüte Spekulatius für den guten Zweck kaufen wollte, aber das nötige Kleingeld dafür einfach nicht hatte – und dann selbst ein Tütchen geschenkt bekam. Dass sie die Zeit ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit manchmal auch als anstrengend empfand, ist ironischerweise eine unmittelbare Konsequenz derselben Haltung und Weltsicht, die sie überhaupt erst dazu prädestinierte, den Verein so überzeugend zu vertreten: „Ich fürchte, ich bin ein sehr altmodischer Mensch“, gesteht sie ernst. „Ich bin der Meinung, dass man in seinem Lebenswandel absolut untadelig sein muss, wenn man das Geld anderer Leute einsammelt. Immer mit gutem Vorbild voranzugehen, ist aber auch eine Belastung. Und ich bin heute manchmal froh darüber, diese Last nicht mehr tragen zu müssen.“

Hinter der Fassade der gefassten, ehrgeizigen, pflichtbewussten sowie welt- und wortgewandten Frau, die den spanischen König kennt und Wolodymyr Selenskyj dolmetschte, verbirgt sich nämlich auch eine Person, die das Leben mit all seinen Annehmlichkeiten zu schätzen weiß, gern feiert und dann sogar eine unerwartete Vorliebe für laute Rockmusik offenbart: So schrieb Andrea Blomen einst ihre Diplomarbeit über die britischen Glamrocker von Sweet – und sie lässt sich sogar zu der Aussage hinreißen, dass Musik von Vinyl immer noch „am geilsten“ klingt. Ihr Beruf wird sie in den kommenden Jahren auch weiterhin auf Trab halten, aber man darf ihr wünschen, dass sie häufiger die Gelegenheit hat, den Lautstärkeregler nach rechts zu drehen – und Haltung auch mal Haltung sein zu lassen. Sie hat es sich redlich verdient.


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Fotos: Luis Nelsen, Grafik: Michael Strogies
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